In NRW geht unbestreitbar eine ganze Menge, aber das, was die Veranstalter des weltgrößten Grufti-Festivals sich jedes Jahr zu Pfingsten einfallen lassen, lässt die Aktionen im bevölkerungsreichsten Bundesland alt aussehen. Es gibt Veranstaltungen, die gibt es eben nur einmal. Zu denen gehört das WGT zweifelsohne, und das WGT wäre in einer anderen Stadt als Leipzig undenkbar.
Schwarzes Jubiläum
Also heißt es jedes Jahr zu Pfingsten auf's Neue: Auf nach Leipzig! Nach rund fünf Stunden im Auto oder im Zug befindet man sich von NRW aus im Herzen dieser jedes Jahr etwas mehr gentrifizierten, aber noch immer enorm alternativen und liebenswerten Stadt. Hier lässt es sich das vielfältige Kulturprogramm (nicht nur für Gothics) genießen. Mit dem Erwerb der Eintrittskarte kommt man nicht nur in die Konzerte, sondern mittlerweile auch zu zahlreichen Attraktionen der Stadt. Das Ticket gilt nämlich auch für verschiedene Leipziger Kulturinstitutionen wie Museen und Opernhäuser. Dieses Jahr, zum Jubiläum, luden die Veranstalter bereits am Donnerstagabend in den Freizeitpart Belantis vor die Tore von Leipzig.
Vom Szenetreff zum Event der Massen
Vor 25 Jahren, 1991, fand das erste Wave-Gothic-Treffen (damals noch mit leicht anderer Schreibweise) statt. Waren Gothics in der DDR als potentiell verfassungsfeindliche Elemente von der Stasi beobachtet und mitunter auch mal verhaftet worden, freute man sich nach der Wende an den neuen Möglichkeiten, um seine Vorliebe für alles Dunkelromantische endlich ohne jedwede Repression ausleben zu können. In diesem Umfeld entstand das erste Treffen: Es gab eine Location und acht Künstler. Beachtliche 2.000 Menschen reisten damals zu diesem Treffen an. 25 Jahre später hat sich alles gewandelt: Die einst handgemalten Flyer sind aufwendigen Programmbüchern gewichen, die für das Jubiläum in Metalloptik glänzen (und 15 Euro kosten). Es erschienen laut Veranstalter rund 23.000 Interessierte aus aller Welt, um an vier Tagen den über 180 Künstlern (nicht nur Bands, sondern auch Komponisten, Orchester, DJs, Autoren und andere) an 50 verschiedenen Spielstätten in ganz Leipzig zu lauschen. 2014 hat das WGT den Tourismuspreis der Stadt Leipzig erhalten, denn die vielen tausend Besucher spülen jedes Jahr viel Geld in die Hotels, Geschäfte, Taxen und Restaurants. Dass so viele Menschen kommen, liegt sicherlich auch an den Kosten: Die Jubiläumskarte mit ihrem Preis 120 Euro beim Besuch von drei oder vier Veranstaltungen schnell amortisiert. Natürlich sind 120 Euro auch viel Geld, aber im Vergleich zu Einzelkonzerten oder anderen Festivals ist die WGT-Karte immer noch verhältnismäßig günstig – vor allem, wenn man bedenkt, was man alles dafür erhält.
Misslungener Auftakt im Freizeitpark
Die Idee, den Besuchern zum Jubiläum etwas besonderes zu bieten, ist lobenswert. Ob es allerdings bei einer Szene, die sich zu großen Teilen traurigen Tönen, ruhigen Klängen und innerer Einkehr verschrieben hat, Sinn macht, einen Freizeitpark zu mieten, wurde in der Szene schon im Vorfeld stark diskutiert. Dass dann bei bestem Sommerwetter statt der erwarteten 5-6.000 Menschen gleich über 10.000 zum Belantis-Freizeitpark wollten, damit hatte offenbar niemand gerechnet. Die Schlange für die wenigen eingesetzten Shuttlebusse war mit über einer Stunde Wartezeit verbunden, und wer erst vor dem Park sein Papierticket in ein Festivalbändchen eintauschen wollte, musste noch einmal so lange einkalkulieren. Im Inneren des Parks war es so voll, dass der Betrieb der Busse zwischenzeitlich ganz eingestellt wurde. Die zusätzlich dargebotenen Tanzflächen waren atmosphärisch schlichtweg unpassend. Fahrgeschäfte gab es nur von 20 Uhr bis Mitternacht, und auch diese vier Stunden wurden durch ein Feuerwerk unterbrochen. So standen viele dann vor dem Fahrgeschäft ihrer Wahl nochmals in der Schlage, schlussendlich ohne gefahren zu sein und verließen den Park verständlicherweise frustriert (nur um in der Schlage abermals für den Shuttleservice anzustehen oder sich für viel Geld ein Taxi zu nehmen). Im Park selbst suchte man auch jegliche dekorativen Gothic-Anklänge, wie sie andernorts zum Beispiel zu Halloween durchaus aufgeboten werden, vergeblich.
Musik und mehr
Nach diesem völlig fehlkalkulierten Auftakt wurde das WGT ab dem Freitag vor Pfingsten dann allerdings wieder zu dem Szenetreff, für den es bekannt ist. Das schon traditionelle Viktorianische Picknick im Clara-Zetkin-Park am Freitag Nachmittag ist für viele der erste Anlass, sich in Schale zu werfen. Bei bestem Sommerwetter tummelten sich auch zahlreiche Schaulustige und Hobbyfotografen in dem frei zugänglichen Park – was als kleines Zusammentreffen begann, ist längst zum Laufsteg und Gaffertreff geworden. Familiärer ging es da beim Steampunk-Picknick am Samstag zu, ebenfalls in diesem schönen Park, dann auch mit Live-Musik, Buffet und zahlreichen phantasievoll gewandeten Gestalten. Abends begannen die Konzerte – und das an Orten, wie es sie wohl nur in Leipzig gibt. Egal, ob das altehrwürdige Schauspielhaus mit seinen roten Teppichen und stuckverzierten Wänden, im Park am historischen Torhaus, ob eine Kirchenruine oder die runde Kuppelhalle – alleine die außergewöhnlichen Orte sind es wert, besucht zu werden. Erklingt darin noch gute, handgemachte Musik (was naturgemäß nicht immer der Fall ist, aber doch überdurchschnittlich oft), dann freut sich das Herz jedes Musikliebhabers. Ästhetik ist der Szene wichtig, und die findet man auf dem WGT in vielfältiger Hinsicht. Darum nimmt man es auch eigentlich gerne in Kauf, dass man von einem Konzert zum nächsten gerne mal eine halbe Stunde oder mehr durch die Stadt fahren muss (zum Glück berechtigt das WGT-Bändchen auch zur kostenfreien Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel), auch wenn man dabei einer seiner Lieblingsbands verpasst. Jeder Besucher hat wohl mindestens ein Mal im Laufe der vier Tage seinen ganz besonderen, eigenen WGT-Moment – wenn er eine neue, interessante Begleitung kennenlernt, eine bisher unbekannte Band hört oder sich ganz und gar den vertrauten Klängen auf einer Tanzfläche hingeben kann. Das Programm ist so vielfältig, dass jeder gewiss etwas neues, interessantes für sich findet – was dazu führt, dass die meisten Besucher ihre Karten bereits zu einem Zeitpunkt kaufen, zu dem noch kein einziger Künstler offiziell bestätigt worden ist.
Doch apropos verpassen: Die handliche Programmübersicht war in diesem Jahr erstmals zweigeteilt. Statt einer Seite mit allen Events und Adressen gab es gleich zwei riesige Papierpläne, denn man hatte das Kultur- und das Konzertprogramm aufgrund des Umfangs getrennt. Bei der Vielfalt an Veranstaltungen verpasste man zwangsläufig immer irgendetwas, was zum ersten Mal auch richtig ins Gewicht fiel. Da tut es wohl, wenn man sieht, dass sich einige Veranstaltungen Jahr für Jahr wiederholen – war man ein Mal auf einer solchen, kann man sie im nächsten Jahr vielleicht überspringen. Und für denn Rest gilt: Man braucht ja einen Grund, um im nächsten Jahr wiederzukommen, und sei es nur, um einige der festen Programmpunkte dann vielleicht zu erleben – wenn nicht wieder der Auftritt einer Lieblingsband dazwischenkommt.
Ausgewählte optische Impressionen: